Der Sokratischen Eid im Jahr 2022

Eine zeitgemäße Interpretation von Klaus Zierer

16.08.2022 | Bund

Ein Mensch verbringt ca. 15000 Stunden seines Lebens in der Schule und wird durchschnittlich von 50 Lehrpersonen unterrichtet. Doch nur eine Handvoll bleibt ein Leben lang in Erinnerung, obschon alle dieselben Lernenden, dieselben Eltern, dieselben Klassenräume und dergleichen hatten. Was ist das Geheimnis ihres Erfolges? Neuere Forschungen zeigen: Erfolgreiches Lehrerhandeln ist eine Frage der Haltung, deren Ideal als Berufseid formuliert werden kann.

Vor dreißig Jahren hat Hartmut von Hentig einen solchen Berufseid formuliert. Anlass für ihn war die Notwendigkeit einer öffentlichen Selbstverpflichtung angesichts vieler Reformen und Gegenreformen, die – wie im Nationalsozialismus und in der DDR – unpädagogischen Gesichtspunkten folgten und nicht dem Wohl der Kinder dienten. Ohne Zweifel: Hartmut von Hentig ist – für viele und durchaus nachvollziehbar – wegen seiner Verstrickungen in die Odenwaldschule vom Nestor der deutschen Pädagogik zu einer persona non grata geworden. Was für die Person gilt, muss aber nicht für das Werk zutreffend sein. Sein sogenannter Sokratischer Eid hat Generationen von Lehrpersonen beschäftigt und beeinflusst.

Warum aber erneut über einen Berufseid nachdenken? Bei der Beantwortung dieser Frage ist die aktuelle Lage wichtig: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben weltweit das Wohl von Kindern beeinträchtigt. Ob kognitive Lernleistung, psycho-soziale Entwicklung oder körperliche Verfassung – angesichts empirischer Daten ist anzuerkennen, dass das Bildungsniveau sinkt. In Anbetracht des Zusammenhanges zwischen Bildungsniveau und Wirtschaftskraft einerseits und zwischen Bildungsniveau und Demokratiefähigkeit andererseits ist dies bedenklich. Denn es gilt: Sinkt das eine, so auch das andere. Besonders dramatisch ist, dass Kinder aus bildungsfernen Milieus stärker betroffen sind. Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu. Aber auch die Erziehungswissenschaft hat sich verändert: Formulierte Hartmut von Hentig seinen Sokratischen Eid noch vor dem Hintergrund einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik, so ist heute die empirische Bildungsforschung maßgebend. Dabei ist zu betonen, dass weder das Eine, noch das Andere besser oder schlechter ist: Bildung erfordert sowohl theoretische als auch empirische Zugänge. Hierfür eignet sich ein Humanismus als Leitidee, der sich in der Realität bewähren muss.

Angesichts dieser Gemengelage ist es an der Zeit, eine Erneuerung des Sokratischen Eides vorzulegen. Er versteht sich als theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte öffentliche Selbstverpflichtung von Lehrpersonen – gegenüber den Kindern, den Eltern, den Kolleginnen und Kollegen, der Bildungsöffentlichkeit, der Gesellschaft und sich selbst. Um zu wirken, muss er nicht nur bei der Übergabe der Einstellungsurkunde verlesen werden, sondern zum roten Faden der Lehrerbildung werden. Sokrates als Gewährsmann zu nehmen, ist damals wie heute sinnvoll. So lautet die Erneuerung des Sokratischen Eides angesichts epochaltypischer Herausforderungen, die nur durch Bildung zum Wohl der Menschheit gemeistert werden können:

„Wer die Welt bewegen will, sollte erst sich selbst bewegen.“

Sokrates

Als Lehrperson verpflichte ich mich, all mein Fühlen, Denken und Handeln im Beruf auf das Wohl der mir anvertrauten Kinder hin auszurichten.

 Den Kindern gegenüber verpflichte ich mich,

  • jedes Kind seinen Möglichkeiten und seinem Entwicklungsstand entsprechend zu fordern und zu fördern,
  • kein Kind zurückzulassen oder abzuschreiben, egal welche Gründe gegeben sind,
  • das Scheitern von mir anvertrauten Kindern immer und immer wieder als Anlass für neue Wege meines Lehrens zu nehmen,
  • Fehler als Chance zu begreifen, nicht als Makel,
  • Herausforderungen im Bildungsprozess zu setzen, damit Unter- und Überforderung nicht eintreten,
  • Motivationen zu suchen, aufzugreifen und zu wecken,
  • immer und immer wieder in den Dialog zu gehen, Rückmeldungen zu geben und einzuholen, Fragen zu stellen und zuzuhören,
  • Unterrichtsfächern eine dienende Funktion im Bildungsprozess zuzuschreiben,
  • alle Bereiche der Persönlichkeit anzusprechen und anzuregen,
  • Vertrauen in die Welt und die eigene Person zu schenken und tagtäglich sichtbar zu machen,
  • die Klasse und die Schule als Willkommensort zu begreifen und zu gestalten,
  • für eine wertschätzende, angstfreie und bildungswirksame Atmosphäre und Beziehung zu sorgen und
  • für die leibliche, geistige und seelische Unversehrtheit der mir anvertrauten Kinder einzustehen.

 Den Eltern gegenüber verpflichte ich mich,

  • auf Augenhöhe zu kommunizieren und eine Bildungspartnerschaft aufzubauen,
  • den Bildungsprozess der Kinder als gemeinsame Aufgabe zu begreifen,
  • nicht nur regelmäßig zu Gesprächen bereit zu sein, sondern auch aktiv den Kontakt zu suchen und
  • ihre Einschätzungen zum Bildungserfolg und –fortschritt der Kinder ernst zu nehmen und mit der eigenen Sichtweise zu verbinden.

 Den Kolleginnen und Kollegen gegenüber verpflichte ich mich,

  • meine Erfahrungen in der Erziehung und im Unterricht zu teilen und als Grundlage für die kollegiale Professionalisierung zu nutzen,
  • die tagtäglich gemachten Fehler zu teilen und gemeinsam zu reflektieren,
  • erfolgreiche Momente in der Schule zurückzuspielen und gegenseitige Anerkennung zu schenken und
  • jedem seine individuelle Sichtweise auf Schule und Unterricht zuzugestehen und gleichzeitig an einer gemeinsamen Vision zu arbeiten.

 Der Bildungsöffentlichkeit gegenüber verpflichte ich mich,

  • den Bildungs- und Erziehungsauftrag anzunehmen und jederzeit umzusetzen,
  • nicht nur Wissen und Können zu vermitteln, sondern alle Bereiche der Persönlichkeit in den Blick zu nehmen und zu fördern,
  • alle Unterrichtsfächer dem Wohl des Kindes und damit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag unterzuordnen,
  • loyal, aber nicht blind gegenüber amtlichen Vorgaben zu sein,
  • alles umzusetzen, was dem Wohl der Kinder dient, und alles zurückzuweisen, was dem Wohl des Kindes zuwiderläuft,
  • jegliche Interessen und Forderungen an Schule und Unterricht, die nicht in erster Linie dem Wohl des Kindes entspringen, kritisch zu hinterfragen, gegebenenfalls auch öffentlich anzuklagen und zurückzuweisen und
  • im öffentlichen Diskurs den Kindern und ihrem Recht auf Bildung eine Stimme zu geben.

 Der Gesellschaft gegenüber verpflichte ich mich,

  • allen voran die Achtung vor der Würde des Menschen als Grundlage und Ziel von Schule und Unterricht zu sehen,
  • die Grundsätze unserer Demokratie zu vermitteln und in der Schule und im Unterricht zu verteidigen,
  • Schule als einen Ort der Reproduktion und der Innovation gesellschaftlicher Werte zu sehen,
  • meine pädagogische Freiheit zu nutzen, um aktuelle Fragestellungen in das Zentrum des Schulalltages zu stellen, und
  • nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft gegenüberzustehen.

 Mir selbst gegenüber verpflichte ich mich,

  • mein Vorgehen jederzeit zu begründen, kritisch-konstruktiv zu diskutieren und gewissenhaft zu reflektieren,
  • regelmäßig meine fachlichen, pädagogischen und didaktischen Kompetenzen weiterzuentwickeln,
  • regelmäßig meine Berufshaltungen zu reflektieren und
  • meine Vorbildrolle stets nach bestem Wissen und Gewissen auszufüllen.

 Ich bekräftige das Gesagte durch meine Bereitschaft, mich jederzeit an den Maßstäben messen zu lassen, die von dieser Verpflichtung ausgehen.

Gerd Altmann auf Pixabay

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